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Abfahrtsrennen für Genussraser • auf dem längsten Skirennen der Welt

Kurzer Atem und feuchte Finger. Ich habe ein Gefühl im Magen, an das ich mich nur dunkel erinnere, denn mein letztes Skirennen liegt über dreißig Jahre zurück. Die Trophäe, einen bronzenen Miniaturski mit Hinweis auf den dritten Platz in der Klasse der Sechsjährigen, hüte ich noch heute.

Das längste Skirennen der Welt: der weiße RingDie Hoffnung auf eine vergleichbare Platzierung beim längsten Skirennen der Welt hege ich nicht. Mit mir starten 999 weitere Skifahrer und Snowboarder zum Wettkampf auf dem Weißen Ring. Der Skizirkel führt im österreichischen Bundesland Vorarlberg von Lech über Zürs und Zug zurück zum Startpunkt. Das Rennen gehört zu den Neulingen unter den Skiwettkämpfen: In der Wintersaison 2005/2006 fand er zum ersten Mal statt. 22 Pistenkilometer und 5.500 Höhenmeter gilt es in möglichst kurzer Zeit zu überwinden. Heute wie damals trage ich über dem Skianzug ein enges Shirt. Es weist mich als Teilnehmer und Startnummer 694 aus.

Schon am Start fallen die ersten Fahrer übereinander her

Mit mir warten die Nummern 680 bis 699 auf den Start, der alle zwei Minuten zwanzig Mitstreiter zum Spurt über einen acht Meter hohen Hügel ins eigentliche Rennen schickt. Ein Fest für die Fotografen rechts und links der Strecke. Im entwürdigenden Watschelspurt, die Ski V-förmig nach außen gestellt, fallen die ersten Wettläufer im wahrsten Wortsinn übereinander her. Ich zähle sieben gestrauchelte Helden. Meinen Rangplatz verbessere ich damit schon auf den ersten Metern von 694 auf 687. In diesem Moment trabt ein Kurzskifahrer, die Bretter unter dem Arm, locker an mir vorbei. Wie gewonnen, so zerronnen.

Um den Weißen Ring gehen die Profis zuerst ins Rennen. Danach starten Männer und Frauen getrennt nach Altersklassen und Sportgerät. Die ältesten Teilnehmer sind weit über siebzig Jahre alt. Für die vereisten Stellen schreibe ich mir stärkere Nerven als den Senioren zu. Außerdem habe ich auf der ersten, nicht sehr steilen Schussstrecke den heimtückischen Kurzskifahrer und vier zögerliche Teilnehmer überholt. Ich überschlage meine momentane Platzierung: 681.

SECRETTRAVEL AutorNicht nur Rowdys fliegen raus

Nach 1.634 Metern geht die Fahrt in die erste Zwangspause. Wer den Weißen Ring umrundet, benutzt unterwegs sieben verschiedene Skilifte. Mit etwas Pech kommt man in einer Traube Konkurrenten an den Aufstiegshilfen an. Gedrängel gibt es trotzdem nicht. Grobes Verhalten wird entlang der gesamten Strecke sanktioniert, Rowdys werden disqualifiziert.

Die Pausen im Sessellift sind für die meisten Hobby-Raser eine willkommene Erholung. Stillstand ist jedoch ein Ärgernis. Zumindest für die, die im Lift sitzen, während sich nichts bewegt. Von Zürs führen zwei parallele Lifte bergan. Der linke steht – zur Freude aller, die sich jetzt noch für den anderen entscheiden können. Einen Mitbewerber hat es vor lauter Schadenfreude aus der Bahn geworfen. Eine kleine Lawine links der Piste und angestrengte Spuren im tiefen Schnee künden deutlich von seinem Fauxpas. Ich rechne ihn zu den weiteren mindestens vierzig Skifahrern, die im Nachbarlift warten, und katapultiere mich auf Rang 640.

Tausche Schokoriegel gegen Rangplatz

Der weiße Ring; Zwangspause im Lift
Zwangspause im Lift

Der wohl schwierigste Teil des Rennes beginnt am 2438 Meter hohen Madloch-Joch. Die mehr als vier Kilometer lange Abfahrt nach Zug ist in den Morgenstunden häufig vereist. Wer hier vorsichtig fährt und nicht stürzt, verbessert seinen Rangplatz automatisch um diejenigen Wintersportler, die unfreiwillig aus dem Rennen gehen: eine Gehirnerschütterung, zwei Schulterverletzungen, ein Bänderriss und zwei Kreuzbandrisse zählten die Ärzte beim letzten Rennen.

Keine schöne Bilanz aber auch keine verwunderliche. Bei andauernder Fahrt am Geschwindigkeitslimit, womöglich in der Abfahrtshocke, zeigen sich die Grenzen von Kondition und Belastbarkeit. Im Lift zum Kriegerhorn, der letzten Ruhepause vor der Zielabfahrt, beglücke ich einen frierenden Konkurrenten im hautengen Einteiler mit Schokoriegeln aus den Taschen meines altmodischen Skianzuges. Zum Dank gewährt er mir beim Ausstieg aus dem Lift den Vortritt.

Das längste Skirennen der Welt: der weiße Ring
Nach dem Rennen

Zur Belohnung: zwei Wiener Würstchen und eine Urkunde

Vor dem eigentlichen Zieleinlauf überhole ich auf Abschnitten mit sanftem Gefälle insgesamt zwölf Snowboarder. Vier Skifahrer zischen an mir vorbei – das macht inzwischen Rang 631. Bleibt nur noch der Slalom vor dem Zieltor. Über Lautsprecher feuert ein Kommentator die Teilnehmer auf ihren letzten Metern an. Bei der Schussfahrt über die Ziellinie gibt es sogar einen kleinen Applaus für eine Zieleinlaufzeit von knapp unter einer Stunde.

Zur Belohnung bekomme ich, wie bei meinem letzten Rennen vor dreißig Jahren, zwei Wiener Würstchen – heute mit scharfem Meerrettich. Mir gegenüber kaut ein älterer Herr an seinem Snack. In der Straßenbahn hätte ich ihm ohne Zögern meinen Sitzplatz angeboten. Hier sollte eigentlich er für mich aufstehen. Mit einer Zeit von unter 54 Minuten, seine Urkunde liegt protzig neben ihm, hat er den Seniorenstatus eindeutig verspielt – und ich beschließe, im öffentlichen Nahverkehr künftig nur noch in Ausnahmefällen vom Sitzkomfort abzurücken.

Das längste Skirennen der Welt: der weiße RingInfo

Die Anmeldung für den Weißen Ring, das längste Skirennen der Welt, erfolgt über die Internet-Seite www.derweissering.at; www.lech-zuers.at

Fotos: Carsten Heider

 

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